Karin Hoerler und das Reinheitsgebot Das Fotografische im Werk von Karin Hoerler. Festzustellen ist, dass dem Werk von Karin Hoerler Fotografien zugrunde liegen. Allerdings sind diese Fotografien nicht selbst erstellt, sondern gefunden, oder genauer gesagt gezielt ausgewĂ€hlt. Karin Hoerler konzentriert sich hierbei auf Fotos mit dokumentarischem Charakter. Auch Karin Hoerlers Montagen dokumentarischen Materials folgen einer musikalischen, einer rhythmischen Struktur. Und wenn die Filmgeschichte Ruttmanns Film attestiert, dass dessen Rhythmus den Zuschauer hypnotisiere, dann ist in Karin Hoerlers Fotomontagen Vergleichbares zu finden. Der wahrnehmungspsychologische Aspekt axialer Symmetrien. In dem groĂen Feld wahrnehmungspsychologischer Aspekte nimmt das PhĂ€nomen der Achsensymmetrie eine besondere Stellung ein. Die achsensymmetrische Figur liefert dem Betrach-ter nur die HĂ€lfte der vorgeblichen Information. Ist doch sofort zu erkennen, dass gleicher Inhalt (nur eben seitenverkehrt) zweimal auftaucht, also zur HĂ€lfte redundant ist. Wenn in dem Film âBerlin: Die Sinfonie der GroĂstadtâ der Bruch - der Schnitt - durch die Montage einer Rechts- bewegung gegen eine gespiegelte Linksbewegung das Erinnerungsvermögen des Betrachters in Anspruch nimmt, wie es ja auch fĂŒr jede musikalische Figur gilt, so ist im einfachen Klappbild die gleichzeitige PrĂ€sens der Bestandteile gegeben und erlaubt einen schnellen Blick. Als angenehm wird das der Klappfigur innewohnende Gleichgewicht empfunden. In der Bearbeitung der Fotografien entfaltet Karin Hoerler die eigentliche Abbildung, indem sie Schnitte ins Bild zieht, an denen es sich spiegelnd vervielfĂ€ltigt. Doch dort, wo sich ein Ornament zu formen beginnt, das sich wieder leichter entschlĂŒsseln lieĂe, akkumuliert sie die Bruchkanten und entzieht die neue Klappfigur der angenehmen Wahrnehmung. Die Fotografien, die Karin Hoerler 2008 auf den Seziertisch ihres Ateliers legt, entstammen dem Familienalbum und dokumentieren die Geschichte ihrer Eltern in der Zeit vor ihrer Geburt. Karin Hoerler unterzieht diese Erinne- rungsbilder aus ihrer eigenen Familienvergangenheit einer Musterung. Sie teilt auf, erzeugt beim Brechen Bruch- kanten und multipliziert durch Mehrfachspiegelungen die Teile, die in ihrer Masse zum Ornament gerieren. Das Ornament der Masse, wie es Siegfried Krakauer 1927 formulierte. Siegfried Krakauer spricht in einem Essay, der im Juni 1927 in der Frankfurter Zeitung erschien, vom Ornament der Masse. Er deckt am Beispiel der Tillergirls die choreografische Mode auf, mit einer groĂen Anzahl von Personen Ornamente zu formen. So schreibt er: âDie Muster der Stadions und Kabarette... werden aus Elementen zusammengestellt, die nur Bausteine sind und nichts auĂerdem. Zur Errichtung des Bauwerks kommt es auf das Format der Steine und ihre Anzahl an. Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenmitglieder allein, nicht als Individuen, ... , sind die Menschen Bruchteile einer Figur.â Die Eröffnungsfeier der Olympiade in Berlin 1936 prĂ€sentierte tausend Angehörige des Internationalen Sport- studentenlagers Eichkamp als BĂ€nder und Reifen schwingendes bewegtes Ornament. Und Leni Riefenstahl montierte in ihrem Film zur Olympiade symphonisch Bewegung gegen Bewegung. Ornamentale Gewalt ist der Vater aller Dinge und die Mutter aller Leiden. Nicht die Fotos, die Kindheitserinnerungen bergen, sind das Ausgangsmaterial von Karin Hoerlers Bildwerken aus den Jahren 2007 bis 2010, sondern Bilder aus dem Leben von Vater und Mutter aus einer Zeit davor. Foto- dokumente, denen neben dem dokumentarischen Charakter auch etwas Inszeniertes innewohnt. âDie Tillergirls lassen sich nachtrĂ€glich nicht mehr zu Menschen zusammensetzen, die MassenfreiĂŒbungen werden niemals von den ganz erhaltenen Körpern vorgenommen, deren KrĂŒmmungen sich dem rationalen VerstĂ€ndnis verweigern. Arme, Schenkel und andere TeilstĂŒcke sind die kleinsten BestandstĂŒcke der Komposition.â (Krakauer) Der von den Nachgeborenen meist unverstĂ€ndliche Blick auf die Jugendzeit der Eltern findet in den Arbeiten von Karin Hoerler einen möglichen Deutungsansatz: Der Prozess der Nazifizierung war auch ein ornamentaler. Das in seinen Traditionen und Ritualen Figuren bildende Volk degenerierte in kurzer Zeit zu einer in ornamentalen Mustern erstarrten Masse, zu einem Massenornament, welches von individuellen Unebenheiten gesĂ€ubert war. Und war insofern die Entwicklung vom Reinheitsgebot hin zur Rassenhygiene. Dem zur Zierde entwickelten Ornament wohnt der Zwang inne. Karin Hoerler entdeckt bewusst oder unbewusst die Struktur einer Epoche, in der sie ihre Eltern zu orten sucht. Weil aber die Muster die Individuen auslöschen, hat Karin Hoerler mal Vater, mal Mutter mit einem Kreuzchen markiert. Karin Hoerlers Montagen konfrontieren den Betrachter mit ihrer individuellen Suche nach einer Antwort auf die Frage: Woher komme ich und was sind meine Wurzeln? Eine Frage, mit der jeder ganz persönlich konfrontiert ist. Gottfried Hafemann, 2010 |
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