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Fortsetzung der Eröffnungsrede von Friedhelm Baumgärtner Mehr als die Summe Karin Hoerlers „Bildexposition“ in der Galerie Hafemann
Es lohnt sich nun, daran zu denken, dass all die Bildmotive hier, ob Gemüse oder Käse, Pampas oder Kosmetika, Hundefutter und anderes mehr, in der Welt der Waren, wo sie eigentlich zuhause sind, allenfalls im Kaufakt mal so etwas wie Beachtung finden. Ansonsten aber landen sie in den allermeisten Fällen ohne weiter gewürdigt worden zu sein sehr schnell im Feuer der Mülldeponien. Karin Hoerler dagegen achtet sie als keineswegs zu gering, um sich ihnen mit Leidenschaft seit über zwanzig Jahren künstlerisch zuzuwenden. Sie verschafft ihnen auf Chromolux–Papier einen wie man sehen kann wahrlich glanzvollen Platz und hebt sie bereits allein dadurch ins Bedeutungsvolle; gesteigert noch durch einen exponierten Ort wie diesen, wo sich die erwählten Motive vieler Blicke gewiss sein dürfen. Um sich derer würdig erweisen zu können, hat Karin Hoerler sie in einer streng erscheinenden Formation in Reih und Glied antreten lassen. Dass den Motiven allerdings trotz dieser geometrischen Diszipliniertheit ein Drang zur Bewegung innewohnt, erklärt sich für mich vor allem dadurch, dass sie alle beliebig ihren Platz wechseln könnten, ohne dass etwas verloren ginge von dem, was sie als Ganzes ausmacht. ie Schöpferin dieser Art von Schwarmenergie kann natürlich nur die Künstlerin sein, die ihre Motive wie gesagt aus einem pragmatischen Dasein befreit und ihnen ein ästhetisches Leben einhaucht; ein Leben, das, verglichen mit dem schnellen Aus, welches ihnen vorher beschieden war, nahezu einer Ewigkeit gleicht. Auch insofern folgt die Künstlerin, und es mag verwundern, wenn ich’s so nenne, einem romantisierenden Tun. „Denn“, wie es der Dichter Novalis in berühmte Worte fasste, „indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, romantisiere ich es.“ In diesem auch als Entgrenzung zu bezeichnenden Vorgang drückt sich ein Befreiungsakt aus, der, auf Karin Hoerlers Motive bezogen, ihnen eine Existenz erlaubt, in der sie sich auf neue Weise zweckfrei artikulieren können. Drückt sich aus und artikulieren sage ich nicht von ungefähr, denn ich meine es in einem sprachlichen Sinne. Nur, wie soll das gehen? Um darauf eine Antwort geben zu können, möchte ich daran erinnern, dass die Ausstellung den Titel BILDLEXIKON trägt. Und in der Tat gleichen die Motive an den Wänden den flächig ausgebreiteten Seiten eines mächtigen Bilderbuches. Lexikon meint allerdings per definitionem ein das Wort betreffende Buch; von Lexem herkommend, was sprachliche Bedeutungseinheit heißt. Auch Bildlexika, die es ja gibt, haben einen die Bilder erläuternden Text. Deshalb dürfen sie sich Lexikon nennen. Worte oder Erklärungen gar finden wir aber in unserem BILDLEXIKON nicht. Abbildungen, Zeichen und Muster sehr wohl. Und ganz überwiegend solche, die uns etwas sagen. Wessen Stimme aber ist es, in der sie, die eigentlich Stummen, uns dennoch erreichen können? Es ist eine Stimme jener Art, wie sie in Rainer Maria Rilkes, durch eine Skulptur von Rodin inspiriertem Gedicht Archaischer Torso Apollos spricht. Ein Gedicht, in dem ein lyrisches Ich, das sehr genau die kopflose Rumpfgestalt eines Torsos betrachtet, eine Subjekt-Objekt-Umkehr erlebt, also vom Betrachter des Torsos zu einem vom Torso Betrachteten wird. So als besäße der Torso, die Kunstfigur, unzählige ihn anblickende Augen. Und er, der solchermaßen Angeblickte hört eine Stimmen sagen: „Denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Offensichtlich blickt der Betrachter, das Kunstwerk ins Auge fassend, in eine Art von Spiegel. Aber nicht in einen, der den physikalischen Gesetzen der Optik unterliegt. Wenn es, um im Bild zu bleiben, dennoch eine Widerspiegelung gibt, dann kann es nur eine solche sein, die zwar von der ästhetischen Energie des Kunstwerks ausgelöst wird, aber im Innern des Betrachters nur stattfinden kann. Eine Reflektion gewissermaßen, aber eben keine optische. Sondern eine, wie soll man sie nennen, kognitive, psychologische? Jedenfalls eine, die bei Rilke in die verblüffenden Worte mündet: „Du musst dein Leben ändern.“ Und wer sagt das? Das Du jedenfalls, ein Anredepronomen, verweist darauf, dass die Stimme von einem Gegenüber kommt. Ein völlig Fremder aber kann es nicht sein, ein schon Bekannter aber auch nicht. Manches spricht darum dafür, dass es sich um die Stimme dessen handelt, um es entpersonalisiert zu sagen, was ein Betrachter bei sich selbst angesichts des Kunstwerks als einen Daseinsmangel spürt. Einen, der sich auf Rilke bezogen, als ein innerer Aufbruch artikuliert. Mit einem Torso, der das Unfertige in sich selber trägt, haben wir es bei Karin Hoerlers Bildern nicht zu tun. Mit augengleichen Motiven aber, die uns anschauen, schon. Denn in ihrem BILDLEXIKON, in dem wir ja alle auch selbst vorkommen, ist eben deshalb keine Stelle, die sich nicht auf uns, die Betrachter, bezieht. Insofern blicken auch wir in einen Augenspiegel der beschriebenen Art. Was wir dabei sehend erleben, das könnte das Ganze, also das die Summe seiner Teile übersteigende Mehr sein. Wer oder was dieses Mehr für uns in welche Worte fasst, dass können nur die, die es können, sehend in sich selber hören..
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